Hallo Mama

Ich weiß, dieser Text kommt ein paar Tage zu spät. Ich bin sicher, dass das bei 10 Jahren nicht so viel ausmacht, da kennen wir alle schlimmeres von der Bahn.

Ja, 10 Jahre. Wahnsinn, oder?

10 Jahre – und ein paar Tage, wie gesagt – ist es jetzt her, dass Tobi mich angerufen hat. Tobi, mit dem ich schon lange keinen Kontakt mehr habe, weil er inzwischen dazu übergegangen ist, Nazis zu wählen und das auch noch im Internet feiert. Du hast auch ein paar ziemlich eklige Wörter gebraucht vor 10 Jahren, aber solche Arschlöcher wie sie dein Schwiegersohn heute wählt, die hättest auch Du vermutlich als Arschlöcher und Nazis erkannt. Aber es hat sich halt viel geändert in diesen 10 Jahren. Das soll Dir dein Mann erklären, der ist ja jetzt bei Dir und es ist schließlich sein Sohn.

Das Wichtigste für uns beide damals war der Grund für Tobis Anruf: Dein Körper hat nicht mehr mitgemacht. Wir wussten das vorher, wir beide, wir alle. 15 Bier am Tag. Kann man eine Weile machen, aber halt keine Ewigkeit.

Sophie und ich wollten euch noch besuchen, ehrlich. Aber so lange hast Du nicht durchgehalten. Das ist ok. Oder zumindest besser als wenn damals dein Suizidversuch geklappt hätte, als ich Dich auf den Rückfall angesprochen hatte.

Es war sehr traurig und auch sehr chaotisch damals in 2009. Wir waren alle da, haben irgendwie zwischen den Tränen alles geregelt und ich weiß, dass es ok war, dass wir zwei Wochen später zu der von Dir gewünschten Seebestattung nicht mehr gekommen sind. Du wusstest ja selbst, wie das Leben mit wenig Geld aussieht.

Da kann ich Gutes berichten. Geld ist gerade genug da. Wir arbeiten jetzt beide im öffentlichen Dienst, mal sehen wie lange das gut geht …

Aber das wollte ich gar nicht erzählen.

Dabei ist genau das das, was mir fehlt: Dir Dinge erzählen zu können. Weder Du noch ich haben Vollzeit aneinander gedacht damals. Das hätte sich in den 10 Jahren auch nicht geändert. Aber ich hätte Dir so gerne von meiner Hochzeit mit Sophie erzählt. 2011 war das und ich hätte mir sehr gewünscht, dir all die Grüße aus deiner ehemaligen Stammkneipe ausrichten zu können, so zynisch das in Anbetracht deiner Krankheit klingen mag.

Ich hätte Dir auch gerne mein Buch geschenkt. Ich hab nämlich ein Buch geschrieben! Ein lustiges. Übers Taxifahren. War kein großer Hit, aber es ist ein Buch mit meinem verdammten Namen auf dem Cover!

Am Allermeisten aber würde ich mir wünschen, ich könnte Dir deinen ersten Enkel vorstellen. Der schläft gerade nebenan. Er ist anderthalb Jahre alt und hat Fieber und ich werde ihn trösten und kann das auch echt gut, aber ich würde ihm eigentlich auch eine Oma wünschen. Wir haben ihn nicht nach irgendwem aus der Familie benannt, aber der kleine Held würde Dir gefallen. Ob er was von Dir hat, kann ich nicht sagen, wir sind schlecht darin, sowas zu erkennen. Er ist halt wie er ist und das ist super so. Mehr als das sogar. Das weiß ich ganz sicher.

Ich weiß auch, dass Du mir zustimmen würdest, wenn ich sage, dass dieser Brief eigentlich keinen Empfänger mehr hat. Das ist ja das Problem. Es sind jetzt 10 Jahre und Du fehlst trotzdem noch.

6 Comments

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6 Responses to Hallo Mama

  1. Sven

    wortlos, den tränennah, an den eigenen Vater Gedacht.
    Danke

  2. Hendrick

    Ebenfalls wortlos, den Tränen sehr nah.
    Lieber Sash, ich lese schon lange bei Dir mit. Da gab es den Taxi Torsten aus dem Münsterland (?) noch.
    Ich habe sehr oft bei Deinen Geschichten gelacht, geschmunzelt, das eine oder andere mal auch derbe schlucken müssen, aber so gerührt war ich glaube ich bei keinem Deiner Texte.

    Jetzt ist genau der richtige Zeitpunkt, Dir mal DANKE zu sagen. Für wirklich kurzweilige, nachdenklich-machende und und und Unterhaltung. Über lange Jahre. Du bist ein ganz wunderbarer, guter Mensch. Hey, sonst hätte Sophie doch niemals „ja“ gesagt. Du weißt es also! 🙂

    Und wenn Herr Baby auch nur einen Bruchteil in den Genen hat: Toll.

    Wie beendet man so einen Text? Keine Ahnung. Doch:
    Bleib, wie Du bist, Big Man.

  3. Hendrick

    … einen Bruchteil DAVON in den Genen hat …

  4. Wahlberliner

    Wow. Ich bin in der glücklichen Situation, noch beide Elternteile zu haben, und sie leben sogar noch zusammen. Trotzdem habe ich vor ein paar Wochen eine Nachricht bekommen, dass mein Vater wegen eines Blinddarmdurchbruchs ins Krankenhaus gebracht werden musste. Es ist zum Glück noch mal alles gut gegangen, aber ich habe dadurch den Entschluss gefasst: Zwischen den Jahren werde ich meine Eltern mal wieder besuchen fahren, weil, wer weiß, wie lange das noch möglich ist. Über Weihnachten schaffe ich es noch nicht ganz, aber das ist OK so.
    Ich habe zwar keine solche Dinge zu berichten, die Eltern gerne hören (wie Schwiegertochter oder Enkel), aber andererseits haben sie bei meinem Bruder erlebt, wie sowas laufen kann (schon die zweite Schwiegertochter weg, und der Enkel wächst inzwischen in Patchwork-Familien auf und ist viel zu selten bei Oma&Opa). Naja, es ist wie es ist, und das muss genügen. Man kann es sogar „gut so“ nennen, jeder geht seinen eigenen Weg, und macht eigene Fortschritte. Und die sind auf jeden Fall getan, und werden auch wieder getan werden, wenn ich „zwischen den Jahren“ dort hin fahre. Ganz persönlicher Natur zwar, aber das ist ja auch wichtig.

    Ich wünschte, ich könnte den im Blogbeitrag angesprochenen Verlust angemessen kommentieren, aber außer „es ist halt so, wie es ist, und man kann auch damit zu leben lernen“ fällt mir nichts ein. Ach so, wenn der Mensch, der da gestorben ist, vorher sein Leben nicht genossen hat, dann kann der Tod sogar eine Erlösung für ihn gewesen sein (Dieser Satz ist extra im generischen Maskulinum gehalten, um Distanz zu schaffen). Die eigene Trauer ist dann vor allem Egoismus. Aber auch der ist an dieser Stelle erlaubt, denn da richtet er am wenigsten Schaden an (verglichen mit allen anderen Formen, die er sonst noch annehmen könnte).

  5. the passenger

    Allerherzlichstes Beileid, Sash. Ich bin sehr dankbar, dass ich die Gefühle, die Du beschreibst, noch nicht selber erleben musste und ich wünsche Dir von ganzem Herzen, dass der Schmerz zu ertragen ist; gerade über die Feiertage. Hab ein schönes Fest mit Deiner Familie und fühl Dir mal virtuell auf die Schulter geklopft. Ach ja, und ich fand Dein Buch klasse. Habe es sogar bereits ein zweites Mal gelesen.

  6. Du schreibst wirklich schön. Danke, dass du so die eigenen Gedanken an die eigenen Eltern anregst. Ich hoffe es wird mit der Zeit leichter für dich, auch wenn wehmütig sein eigentlich ja auch nichts schlechtes ist.

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