Die Geschichte von Jan (2)

Zunächst einmal musste er sich erinnern, warum er sich den Wecker gestellt hatte. Er überlegte kurz zu duschen, verwarf den Gedanken aber nach einem kurzen aber intensiven Geruchstest unter seinen Achseln. Er stand in der Küche, blickte auf die Spree, die zwischen den gegenüberliegenden Häusern durch die kahlen Bäume gerade so zu erkennen war.

Warum sollte er sich einen Wecker stellen? Es ergab keinen Sinn. Er war heute ganz alleine in seiner Bude, er erwartete keinen Besuch und er hatte keine Termine. Wozu also hätte er sich absichtlich im Ausschlafen seines Rausches sabotieren sollen? Er blickte sich im Raum um, in dem er am vorigen Abend seine geistige Umnachtung zelebriert haben musste. Ein voller Aschenbecher, zwei benutzte Töpfe, das Glas mit dem Killerdrink von vorhin, noch zwei benutzte Töpfe. Eine Pfanne und ein Haufen Kartoffelschalen verzierten den kleinen Tisch, umringt von acht halbleeren oder leeren Gläsern, auf die kunstvoll zwei vollgekrümelte Teller gestapelt waren.
Daneben stand sein eigentlicher Turm aus ungespültem Geschirr.

Im offenen Küchenschrank fand sich neben der ausgelutschten Jacky-Flasche ein bisschen Fertigessen und ein halbes Netz Kartoffeln. Sein trautes Heim hatte ohne jede Frage schon bessere Tage gesehen.

Er konnte später nicht mehr sagen, ob er zuerst das Blatt Papier gesehen und sich dann erinnert hat, oder ob es umgekehrt war. Er zog das mit dem quadratischen Abdruck der Whisky-Flasche verzierte Schriftstück mit dem roten Logo hervor und setzte sich erstmal. Die Bank!

Es musste ungefähr zwei Wochen her sein, da hatte sein Bankberater, Norbert Fritsche, ihm diesen Brief geschrieben, in dem er um eine Terminabsprache bat. Das konnte unmöglich etwas Gutes bedeuten – der Hauptgrund, weswegen Jan sich bisher nicht dort gemeldet hatte. Sein Konto war eigentlich immer komplett leer gewesen, mit Müh und Not hatte er sich vor zwei Jahren von einem Dispo befreit, dessen Ausnutzung ihn jährlich rund 400 € mehr kostete, als er hatte – also ziemlich genau 400 €.
Vor einem Monat ging dann einiges mit ein paar Überweisungen schief, bzw. eigentlich war an der Sache nur eines schief: Die Deckung des Kontos reichte nicht. Somit stand er bei der Bank ein paar Taler in der Kreide, ungewollt und unerlaubt. Kein Zweifel, dass der Fritsche diese Dreizehnzwanzich jetzt von ihm einfordern würde.

In der letzten Nacht hatte Jan die Art Geistesblitz, die nur Betrunkene zustandebringen: Gleichermaßen deprimiert vom Zustand seines Lebens, aber alkoholbedingt in unglaublichem Tatendrang gefangen, hatte er irgendwann gegen 4:30 Uhr beschlossen, sein Leben grundsätzlich zu ändern. Den Brief der Bank hatte er zwischen den Kartoffeln und einer Maggi-Fix-für-irgendwas-Packung gefunden und ob dieses offensichtlichen Missstandes – beinahe hätte er ihn mitgekocht – fiel der Entschluss, mit genau diesem Termin alles zu beginnen. Nachdem er das Schälmesser gerade noch rechtzeitig von seinem Wecker abgesetzt hatte, speicherte er seine Weckzeit am frühen Mittag ein, mit verbissenem Stolz, die Zunge aus dem Mundwinkel drückend.

Mit einer für seinen Zustand beachtlichen Selbstreflexion hatte er die Zeit auf 5 Stunden und 13 Minuten vor das Ende der Banköffnungszeiten gelegt, ausreichend also, um sich auf ein Telefonat vorzubereiten. Jetzt, halbwegs ernüchtert am Küchentisch sitzend, kam ihm das alles gar nicht mehr so großartig vor. Dieser Fritsche war ein Lackaffe, der nervte ihn eigentlich schon immer!
Außerdem: Ein bisschen Geld bekam er zum Fünfzehnten von seinen Eltern geschickt, bis dato würde er die Kohle schuldig bleiben müssen. Und Fritsche würde ihm bestimmt was erzählen von Vorschriften und Abläufen, Protokollen – und dass Ausnahmen „leider“ nicht möglich wären.

Jan überlegte, was er ihm sagen sollte, wie er ihn wenigstens bis nächsten Monat oder so vertrösten könnte. Seine Gedanken kreisten um Drohungen, die Bank zu wechseln und um jämmerliches Flehen. Das Konto sperren dürften sie ihm nicht, er hatte nur das eine. Und wegen Dreizehnzwanzich!

Die Sonne war noch nicht untergegangen, da fühlte er sich bereit. Er schritt mit leicht wackeligen Knieen – er hasste sowas wirklich! – zum Festnetztelefon im engen Flur und hielt sich den Zettel vors Gesicht, um die Nummer zu lesen. Immerhin gleich eine Durchwahl. Tipptipptipp. Tut-tut-tut.

„Berliner Sparkasse Kreuzberg, Sie sprechen mit Norbert Fritsche.“
„Jan Merkel. Sie wollten einen Termin mit mir?“
„Herr Merkel! Sehr schön, dass Sie anrufen. Ich hätte da etwas mit ihnen zu besprechen.“
„Was denn?“
„Herr Merkel, haben Sie sich schon einmal Gedanken um ihre Altersvorsorge gemacht?“
„Äh, nein.“
„Herr Merkel, da muss man sich heute frühzeitig kümmern. Sie können von vielen staatlichen Förderungen profitieren, wenn Sie bereits jetzt beginnen…“

Jan schwankte zwischen Erleichterung und Abscheu. Der ganze Stress für, ganz ehrlich, Werbung? Also eigentlich aber gar kein Stress oder wie?

„Herr Merkel, sind Sie noch dran?“
„Wie? Äh ja. Sie wollen mich bloß wegen der Altersvor…“
„Herr Merkel, es ist nicht bloß EINE Altersvorsorge. Es geht um ihre Zukunft!“
„Vielen Dank Herr Fritsche, aber ich habe kein Interesse.“
„Herr Merkel, bitte denken Sie noch einmal…“
„Nein! Vielen Dank!“

Das Telefonat war schneller beendet als es begonnen hatte und Jan fühlte sich gut. Mit Elan legte er das Telefon zurück in die Ladestation und war überglücklich, dass er doch keine Geldsorgen hatte. Also nicht so direkt, eigentlich ja schon, das versteht ihr nicht! So würde er es jedenfalls seinen Eltern erklären.

Er tänzelte zurück in die Küche und war stolz, den ersten Schritt getan zu haben. In einer Drehbewegung griff er aus dem untersten Regalfach eine frische Cola und rutschte mit seinen Hausschuhen schwungvoll vor den Kühlschrank, wobei ihn die Verletzung von seinem Wecker nur kurz schmerzvoll aufschreien ließ. Er fummelte eine Funghi-Pizza aus dem Eisfach und stellte den Backofen ein. Jetzt würde er es sich erstmal mit einem Filmchen gemütlich machen. Genug gearbeitet für heute!

Welches Ereignis kommt als nächstes auf Jan zu?

  • Seine Mitbewohnerin kommt verfrüht aus dem Urlaub. (39%, 52 Votes)
  • Er bekommt ein Päckchen. (35%, 47 Votes)
  • Er bekommt unangenehme Amtspost. (13%, 18 Votes)
  • Das Essen geht aus und er muss einkaufen gehen. (13%, 18 Votes)

Total Voters: 135

14 Comments

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14 Responses to Die Geschichte von Jan (2)

  1. Gala

    Ist das normal, dass ich das Gesamtergebnis sehe, aber nicht abstimmen kann ?

  2. Gala

    ok, ich korrigiere: nach abschicken des Kommentars kann ich voten *verwirrt und Grenzdebil grinsend schau*

  3. Sex sells – oder wie? 😉 Und 15? *hüstel* Also ich glaube, damit hat er nicht mal ne eigene Wohnung haben dürfen.

  4. Clarissa

    Ich glaub der 15. ist hier das Datum *gg* aber die Werbung von der Bank nervt wirklich immer. Oder ght nur mir das so?

  5. Felix

    mir stellt sich ja am zweiten Tag schon die Frage, wieviel autobiografisches in dieser Story enthalten ist 😉

  6. Kommentator

    HA! Wußte ich doch, dass es mit „Chillen“ weitergeht 🙂

    (Siehe Voting von gestern.)

  7. Merkel, ich werd nicht mehr *prust* Großartige Namenswahl.
    Man hat schon ein klein wenig mit Jan mitgefiebert, als das Telefonat mit der Bank nahte – naja, wer mag sowas schon 😉
    Hm… jetzt erklärt sich mir auch der Name^^
    Wieder ein sehr schönes Kapitelchen. Ich freu mich auf die Fortsetzung.

  8. Andreas O.

    Haha, Felix, dieselbe Frage habe ich mir auch gerade nach dem Lesen gestellt 🙂 Auf jeden Fall wird der aufmerksame Blogleser Parallelen entdecken. Ich bin gespannt auf die Fortsetzung(en). Macht Spaß!

  9. AmiSista

    Die Geschichte erinnert mich irgendwie an „Herr Lehmann“ 😉 Ich bin gespannt wie es weitergeht.

  10. @Gala:
    Hm, sehr seltsam. Teilst du deine IP mit jemandem? (Router)
    Hier können auch nur ich oder Ozie abstimmen. Aber weswegen das nach dem Kommentieren wieder geht… kein Plan, sorry 😀

    @ednong und Clarissa:
    Ja, ich meinte das Datum 🙂
    Hab die Zweideutigkeit gar nicht bemerkt.
    Und: Werbung von der Bank ist furchtbar!

    @Felix und Andreas O.:
    Es sind wenn dann nur kleine Details. Natürlich orientiere ich mich an Dingen, die ich schon mal gesehen hab und deswegen besser beschreiben kann. Also: Ja, ich war schonmal pleite, hab in einer WG gewohnt und hatte auch schon öfter eine unaufgeräumte Küche. Aber in den großen Dingen wird diese Story nicht allzu viel von meinem Leben haben.

    @Kommentator:
    Dass Jan mal chillen würde, war ja eigentlich seit den ersten 5 Sätzen klar, oder? 😉

    @AmiSista:
    Ich hab das Buch nie zu Ende gelesen und kann mich auch an den Anfang kaum erinnern. Wenn es Ähnlichkeiten gibt, dann unbeabsichtigte 🙂

  11. Michi

    Ich bin mal gespannt, wie sich das „Projekt“ so weiterentwickelt… Zum Lesen taugen die ersten beiden Teile auf jeden Fall 🙂

    Und ich hätte nicht gedacht, dass hier so viele abstimmen! 128 Stimmen sind schon eine „Hausnummer“ 🙂

  12. Hm,
    die Mitbewohnerin braucht aber lang, um zurückzukehren 😉 Ich will Content. Con-tent!

    Ah, und jetzt versteh ich das mit dem Datum 😉 Ja, wirklich mehrdeutig.

  13. @Michi:
    Danke. Und ja, die Resonanz finde ich auch super – war ja lange recht ruhig hier…

    @ednong:
    Nu beruuhin‘ se sich mal!
    Und: Datum? What? Oder auf schwäbisch: Hä?

  14. Na Mensch,
    habbense doch selbst geschriebn, mit dem Datum das!

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