Ein Loblied aufs Extrem

So wie bekannt ist, dass Gesichter dann am schönsten sind, wenn man die Gesichtszüge am Mittelwert ausrichtet, so herrscht allgemein auch die Einstellung vor, dass in den meisten Punkten Mittelmaß im Grunde  zu Glück und wirklicher Qualität verhelfe. Das ist ein leicht zu befolgender Singsang und vielleicht stimmt es ja tatsächlich, dass man beispielsweise Geld besser weder zu wenig noch zu viel besitzen sollte.

Manch andere Dinge im Leben werden aber erst dann richtig gut, wenn sie an Grenzen stoßen.

Nun wissen eigentlich alle Leser, dass ich keinen Hang zum Extremsport habe, wenngleich ich dort – eine gewisse körperliche Eignung vorausgesetzt – wesentlich eher meine Präferenzen sehen würde, als im durchschnittlichen Kick auf einem Bolzplatz.

Meine absolut subjektiven Erfahrungswerte stammen aus drei sehr unterschiedlichen Bereichen: Essen, Politik und Musik. In all diesen Bereichen glaube ich, dass es gut tut, sich zumindest mit den Extremen zu beschäftigen, um unglaubliche Erlebnisse zu haben.

Fangen wir an mit dem Essen:

Ich bin ein ausgesprochener Freund scharfen Essens. Bereits in der Kindheit habe ich mir den Verzehr von Peperonis angewöhnt, etwas über das ich heute nur schmunzeln kann. Zugegeben: Die Habanero, in die ich dereinst reingebissen habe, um zu beweisen, dass sie nur wenig Schärfe enthält, war tatsächlich (und glücklicherweise!) sehr mild, aber ohne jetzt der absolute Chilihead zu sein, kann ich nur schwer verleugnen, mich in den oberen Bereichen der Scoville-Skala sehr wohl zu fühlen.
Kritiker vom Starkoch bis zu meinem Vater (der mich damals die Peperoni probieren ließ) bemängeln immer, dass man bei zu viel Schärfe nichts mehr schmeckt. Das ist schlicht nicht wahr! Capsaicin regt Wärmerezeptoren an, nicht die Geschmacksnerven. Und diese entwickeln eine ziemliche Toleranz mit der Zeit. Schärfe ist somit eigentlich ein völliges Nebengleis geschmacklicher Erfahrungen und jeder geübte Jünger des Feuers empfindet dies lediglich als Bereicherung des eigenen Horizontes, ohne dabei auf etwas zu verzichten.

Dann die Politik:

In einem sehr komplizierten Gespräch habe ich einem alten Freund vor Ewigkeiten versucht, zu erklären, wie eingeschränkt das alltägliche Politikgeschäft einen die Welt sehen lässt. Ich erwarte nicht, dass alle meine radikalen anarchistischen Einstellungen teilen, aber es lohnt sich, einen Blick über den Tellerrand der üblichen Parteienlandschaft zu werfen. Komplexe Systeme wie die hier und anderswo praktizierte Politik lassen sich am Besten von außerhalb beobachten. Das soll kein Werbefeldzug für dummdreiste Indoktrination kurioser Gestalten werden, aber seinen Blick zu schärfen fällt oft schwer innerhalb gesetzter Grenzen. Mich hat in den vergangenen Jahren kein Politikskandal vom Hocker gerissen, ehrlich!
Ob nun verharmloste Neonazi-Zellen, ungezügelter Kapitalismus in Form übereifriger Banker oder die permanenten Datenschutz- und Grundrechtsverletzungen seitens der Polizei: All das ist mir seit 15 Jahren bekannt, weil ich böse böse Blätter wie die verbotene Untergrundzeitschrift „radikal“ gelesen habe. Dass da auch viel Unsinn drinsteht, will ich nicht bestreiten, aber für denkende Menschen ist es einfach eine Erweiterung des Horizontes.

Zuletzt die Musik:

Vor etwa 4 Jahren geisterte eine blöde Meldung über eine sicher unzureichende Studie durch die Presse, in der nachgewiesen wurde, dass die Hörer von Metal überdurchschnittlich intelligent seien. „Auch wenn man unter den Hörern eher einfache Gemüter vermuten würde“ war ein Satz, der begleitend oft genannt wurde.
Nun gut, die Musik-Geschmäcker sind auch verschieden. Dass nicht jeder mit Metal etwas anfangen kann, ist mir klar. Analog zu den oben angesprochenen Chilis verhält es sich jedoch so, dass sich hinter dem oberflächlichen Lärm Kompositionen verbergen, die den Vergleich mit der vielgeliebten klassischen Musik nicht scheuen müssen. Mal ganz abgesehen davon, dass auch Stressbewältigung und Frustrationsabbau legitime Anwendungsgebiete von Musik sind, die manche Musikrichtung nur unzureichend bietet. Tatsache ist, dass sich hinter manchem treibenden Beat ein wohldurchdachtes Gitarren-Arrangement verbirgt, das auf Entdeckung wartet. Die oberflächliche Täuschung mag hier und da zwar Programm sein, eine vorschnelle Verurteilung der gesamten Musikrichtung ist jedoch um vieles stupider als die Musik selbst.

Ich denke, wir sollten manchmal ein Bisschen extremer sein!

Wie eingangs erwähnt: Diese Beispiele sind subjektiv gewählt. Ich bin mir aber sicher, dass es noch einige mehr gibt. Sicher auch welche, die meinen Horizont noch erweitern können. Lasst es mich gegebenenfalls wissen!

12 Comments

Filed under Politik, Vermischtes

12 Responses to Ein Loblied aufs Extrem

  1. Zumindest bei der Musik muss ich sagen das mir noch kein Metalhörer begegnet der Klassik ablehnen würde, im gegenteil ich hab oft zu hören bekommen das Klassik der Metal der Vergangenheit sei.
    Aber ich glaube das behauptet fast jede Musikrichtung über Klassik.
    Auch da will einiges entdeckt werden was sich nicht gleich beim ersten Hören offenbart.

  2. Fahrertuer

    „jeder geübte Jünger des Feuers empfindet dies lediglich als Bereicherung des eigenen Horizontes, ohne dabei auf etwas zu verzichten“
    Wie gerne würde ich dies unterschreiben.
    Aber aus meiner Erfahrung gibt es schön scharf und zu scharf.
    Und wenn man den Punkt überschreitet der schön scharf von zu scharf trennt schmeckt man meiner Erfahrung nach auch nichts mehr, da man sich nurnoch drauf konzentrieren muss das Essen in sich zu halten, statt es sofort wieder los zu werden.

  3. Andreas O.

    Dieses Lied singe ich mit, lasse aber aus lauter Verdruß über die Politik die 2. Strophe (bzw. meinen Kommentar) aus. Die Schärfe im oberen Scoville-Bereich (in dem auch ich mich bewege) sowie Metal sind zwar für viele Nicht-Konsumenten extrem, für mich aber „normal“. Ein paar mal an der Jolokia Mühle zu drehen bereichert aus meiner Sicht viele Gerichte ebenso wie Metal mein Leben. Ja, es gibt verdammt viele Metalkompositionen auch im „Extrembereich des Genres“ die sehr komplex und anspruchsvoll sind, so dass man einige Strukturen erst nach dem x-ten mal hören erkennt. Meine Erfahrung ist die: Einmal darauf eingelassen und man steigert sich, das gilt für Gewürz und Mucke.

  4. Selbst innerhalb des Heavy Metal gibt es ja noch Extreme. So ist beispielsweise der Unterschied zwischen Funeral Doom Metal, so wie Ahab, zu Brutal Death Metal so extrem, dass man auch nicht alle Metalhörer über einen Kamm scheren kann.
    Ich mag übrigens beide Extreme innerhalb des Metal. Und ein paar wenige Sachen dazwischen. Das ist dann meist eher fad.

  5. Jens

    Eine Frage an die Scharf-Esser: Gibt das denn wirklich ein neues Geschmackserlebnis, oder trainiert man seine Geschmacksnerven nur darauf, den hohen Schärfegrad zu ignorieren?

    Und zur Politik: Das Problem dabei ist nur, diejenigen, die wirklich Licht ins Dunkel bringen können von denjenigen zu unterscheiden, die einfach immer dieselben Theorien und Vorhersagen wiederholen bis dann (nach dem Motto „Eine stehengebliebene Uhr zeigt alle 12 Stunden die richtige Zeit an“) eine davon mal zufällig eintrifft.

    Siehe auch die aktuelle Wirtschaftskrise, für die ein ganzer Haufen Gruppen ganz unterschiedliche Begründungen findet, alle mit dem Etikett „Wir haben’s schon immer gesagt“ versehen. Und es kann ganz schön anstrengend sein, da Paranoia und legitime Argumente auszusortieren, besonders weil man leicht verführt ist, das zu glauben, was das eigene Weltbild bestätigt, und alles, was es in Frage stellt, erst einmal skeptischer beäugt. (Geht mir zumindest so.)

  6. Jens

    P.S.: Dein Blog hat noch Sommerzeit.

  7. @LadySolana:
    Dann bin ich Nummer eins! 🙂
    Ich mag die Instrumentierung bei Klassik nicht und höre sie deswegen sehr sehr ungern, abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen.

    @Fahrertuer:
    Keine Frage. Aber „zu scharf“ ist ein Punkt, der sich sehr weit nach hinten verschieben lässt mit etwas Training 🙂

    @Andreas O.:
    Ich habe nicht umsonst geschrieben, dass mir nicht jeder zustimmen muss.
    Ansonsten stimme ich wiederum dir zu 😀

    @Tjeika:
    Klar ist Metal nicht gleich Metal. Ich selbst bin da eigentlich auch extrem wählerisch und hab meine eigenen Vorlieben und mag vieles nicht. Aber ich lehne nichts ab, nur weil es „zu schnell“, „zu hart“ etc. ist.

    @Jens:
    Das kommt drauf an. Ein beschissenes Essen wird durch Chili alleine sicher nicht gut 😉
    Aber ein gutes Beispiel sind Habaneros. Die haben einen unglaublich intensiven Geschmack, den einfach keiner genießen kann, der nicht mit der abartigen Schärfe der Teile klarkommt. Die Schärfe selbst ist im Prinzip zwar immer nur Schmerz, allerdings kann das bei einer Erhöhung der Toleranz auch eher wie ein angenehmer kleiner unterstützender Kick wirken, der das Gesamterlebnis positiv beeinflusst.
    Was die Politik angeht, stimme ich dir zu: Es gibt wie überall auch immer ein paar Spinner, die hier und da auf einer Welle mitschwimmen. Skeptisch zu bleiben würde ich ohnehin als das Wichtigste überhaupt im Leben bezeichnen. Aber es ist tatsächlich auch ein sehr seltsames Gefühl, wenn man ständig als Spinner hingestellt wird und sich ein ums andere Mal bestätigt, was man gesagt hat. Ein bisschen Trotz kommt da natürlich auch mal raus…
    Und zur Sommerzeit: Da ist es wie mit den Uhren: Die Hälfte des Jahres gehen sie immerhin richtig. Tatsächlich hab ich noch kein Plugin gefunden, das die Zeitumstellung automatisch macht. Und wenn ich die Zeit manuell umstelle, sind die Kommentare des letzten halben Jahres um eine Stunde verschoben… interessiert zwar im Nachhinein niemanden, aber für mich gilt das auch bezüglich der Gegenwart: Wayne?

  8. Ich sag jetzt einfach mal: einer der besten Beiträge seit ich deinen Blog kontinuierlich verfolge. Treffende Vergleiche und auf den Punkt…wie man es halt von dir kennt 🙂

  9. anonym

    Die Beispiele sind schon recht gut gewählt. Ich würde aber spontan hier die Politik als das für mich überzeugendste Beispiel nennen. Das hängt schlicht damit zusammen, daß mein Musikgeschmack ein anderer und mein Interesse am Essen nicht so groß ist. Aber in der Politik ist der Eindruck unabweisbar.

    Wobei man da letztlich – in der Praxis zumindest – wohl auch immer wieder zum Mittelmaß (das zwar oft gescholten wird, aber auch ein paar Vorzüge hat!) zurückfinden müßte, denn allein mit extremer Politik wird man dauerhaft nicht Mehrheiten binden können. Und die braucht man ja dann doch immer wieder, wenn nicht alles in eine Form von Diktatur (und sei sie mit noch so guten Intentionen verbunden) abgleiten soll. Oder?

  10. @Alex:
    Danke! 😀

    @anonym:
    Teilweise sicher. Wichtig ist meines Erachtens nach, dass man Ideen nicht über den Haufen wirft, nur weil sie bisher noch kein Konsens sind. Die inzwischen in allen Parteien geführten Diskussionen zum bedingungslosen Grundeinkommen hätten wir vor 10 Jahren schon haben können. Von vernünftiger Kapitalismuskritik mal ganz abgesehen… so lange man nicht auch mal über den Tellerrand raussieht, wird es einfach nix. Dass Umsetzungen auch Unterstützung brauchen, ist klar.

  11. anonym

    Ja, das Grundeinkommen ist sicherlich, genau wie der Mindestlohn (solange es kein Grundeinkommen gibt), ein treffendes Beispiel. Ich bin von der Idee des Grundeinkommens zwar auch nicht hundertprozentig überzeugt, aber ernsthaft diskutieren sollte man das schon.

    Und da gibt es dann sofort die Ideologen und Blockierer, z. B. die Neoliberalen, die kein wichtigeres Interesse haben, als jede Diskussion so schnell und effektiv wie möglich abzuwürgen. Diese Leute scheuen sich auch nicht, unzutreffende Behauptungen aufzustellen, um die Leute zu desinformieren und so jede ihnen unangenehme Diskussion zu beenden. Leider klappt das oft, weil eine Masse Leute politisch nur unzureichend informiert sind. Dabei wäre es gerade heute, mit dem Netz, oft sehr leicht, sich gezielt Informationen zu suchen.

  12. @anonym:
    Ja, Bildung (und der Wille, sie zu erlangen) sind letztlich das große Problem. Aber ich vermute, dass das Netz hier auf Dauer wenigstens eine Verbesserung bringt. Immerhin ist eine Suche bei google nicht so aufwändig wie ein Gang in die Bibliothek.

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