Dieses kapitalistische Gruseln

Ich befinde mich in einer äußerst dummen Position:

Ich habe wenig Geld, bin aber alt genug, mir über den Wert von Dingen bewusst zu sein.

Denn das führt tendenziell dazu, dass ich Dinge kaufe, die ich mir nicht leisten kann. Oder ist es vielleicht noch schlimmer, wenn man stattdessen Dinge kauft, bei denen man weiß, dass sie furchtbar sein müssen? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht, aber einen gewissen Gruselfaktor haben beide Möglichkeiten.

Wir alle wissen, dass Klamotten für 2,99 € vermutlich von Kindern genäht werden. Oder dass Lasagne für 1,50 € auch mal Einhuferfleisch enthält. Wir verdrängen das halt gerne, und vieles davon ist auch einfach so alltäglich, dass man jedes Gefühl verloren hat, was vielleicht unter irgendwie noch akzeptablen Bedingungen hergestellt worden sein könnte.

Und dann war ich gestern Abend zu einem Termin in einem Restaurant. Mal kein Presseinterview, ich musste also selbst zahlen. Dass es günstig werden würde, war vorher abgeklärt und ich war aus eingangs genannten Geldgründen auch dankbar darüber. Als ich dann die Karte gelesen hab, hab ich mich aber sehr aktiv darum bemühen müssen, meine Bedenken runterzuschlucken.

Das Restaurant (ich nenne jetzt keine Namen) war ein Italiener, es gab also auch Pizza. Kein sonderlich teures Essen, schon klar. Auch Meeresfrüchtepizza gab es, mein All-Time-Favorit. Ich bemühe mich ja, halbwegs wenig Fleisch zu essen; aber das eine Mal auswärts pro Quartal enge ich mir nicht irgendwie ein, da nehme ich alles, worauf ich Lust habe. Und Meeresfrüchte … es ist einfach sowas wie Liebe. Für gewöhnlich vergleichsweise teure Liebe. Ich bestelle in den seltenen Runden im Restaurant oder beim Pizzaservice immer das teuerste Essen. Da es dabei in der Regel auch nur um ein paar Euro geht, ist das nicht schlimm, aber eben auffällig. Gestern Abend dann suchte ich fast schon zielstrebig nach der „Frutti di Mare“ und fand sie neben einem Preis, der mir surreal erschien: Vier Euro.

Und das war kein Tippfehler. Die anderen Pizzen kosteten teilweise unter drei Euro.

Ich hab’s ausprobiert und erschreckenderweise auch tatsächlich eine Meeresfrüchte-Pizza bekommen.

Natürlich reden wir hier so oder so nicht von Sterne-Küche oder auch nur gehobenem Niveau. Natürlich war die Pizza auch nicht sonderlich groß. Aber es war eine Pizza mit Meeresfrüchten. Zu einem Preis, zu dem man sonst allenfalls eine von Großkonzernen zigtausendfach produzierte Meeresfrüchte-Pizza im Supermarkt bekommt – ungebacken, nicht serviert, ohne Raumkosten, ohne … WTF?

Ich meine: Das kann doch nicht aufgehen, selbst wenn sie billige Tiefkühlpizzen verwenden!

Ehrlich gesagt bin ich einfach nur schockiert. Aus dem selben Grund, aus dem ich als Taxifahrer über UberPop schockiert bin.

Ich weiß in dem Fall nicht, ob ich einfach nur schön dekorierte Scheiße gefressen hab oder ob der Kellner ein Sklave für einen Euro Stundenlohn war, aber ich weiß, dass ich mit der Sache irgendwas unterstützt habe, was ich nicht unterstützen will. Obwohl ich mich gerne einfach freuen würde, dass ich gut und günstig gegessen habe. Das ist das, was dieses „Nachdenken“ so furchtbar anstrengend macht.

14 Comments

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14 Responses to Dieses kapitalistische Gruseln

  1. Wer weiss was das für eine Geldwaschmaschine war wo du da essen warst.

    Ich zahl für meine Pizza auch 3,50, ja. Im Döner um die Ecke.

    Das Lokal musst du mir mal verraten wenn Ich nach Berlin komme 😉

    Grüße aus Dresden

    Philipp

  2. Wenn das Restaurant eher so ein Schnellbeschiß mit ein paar Tischen ist, dann ist der Preis nicht so ungewöhnlich. Gerade bei der Meeresfrüchte-Pizza kann man enorm viel durch die Auswahl der Meeresfrüchte sparen. Ein paar kleine Krabben kosten fast nichts, zwei ausgewachsene Langostini dagegen ein halbes Vermögen.

    Überleg Dir mal, woraus Deine Pizza besteht. Eine Hand voll Mehl, etwas Öl, ein Kleks Tomatensauce, etwas Käse, etwas Knoblauch, ein paar Krabben, ein paar Gewürze. Das kostet wahrscheinlich zusammen vielleicht einen Euro im Großmarkt, vielleicht etwas drüber? Die Pizza dann für vier Euro zu verkaufen ist schon okay. Mach Dir keine zu großen Sorgen.

  3. Und — „billige TK-Pizzen“ gibt es nicht. Nur nicht ganz so teure. Wenn ein Pizzaladen gut läuft und die Pizzen laufend rausgehen, Teig und Sauce also in großen Stil produziert werden können und auch wenig Belag weggeworfen wird, ist Selbermachen mit Sicherheit sehr viel billiger als TK-Pizzen zu verwenden, auch wenn’s die billigsten sind.

  4. Maiha

    Trotzdem wird Raummiete und Mitarbeiter bezahlen das Teuerste sein… Was mich aber interessiert: Hat die Pizza denn geschmeckt oder war eher so lala?

  5. Wahlberliner

    In Kreuzberg in der Graefestraße, an der nordwestlichen Ecke zur Urbanstraße gibt es einen Imbiss, der verkauft alle Pizzen für 2€ (steht 1,99 dran, wird aber aufgerundet). Ich habe mal den Fehler gemacht, eine Thunfischpizza zu bestellen: Grauenhaft! Aber die Quattro Formaggi (mit dem Zusatz „ohne Zwiebeln!“), die ich normalerweise nehme, ist meistens eigentlich ganz OK. Von der Qualität her sicher ein kleines Stück über einer Tiefkühlpizza, aber halt, naja, eben billig…

  6. hartmut

    Wenn man da die Faustregel „Wareneinsatz mal 3 bis 4 = Verkaufspreis“ annimmt kommt man erst recht ins Grübeln …

  7. Genau diese Regel führte mich zu der Überlegung, daß die vier Euro schon in Ordnung sind.

  8. „Das ist das, was dieses “Nachdenken” so furchtbar anstrengend macht.“
    Kann ich nachvollziehen – ich würde mich da auch in einem Zwiespalt befinden.

  9. @Philipp:
    Liegt aber etwas außerhalb der Innenstadt …

    @buntklicker.de:
    Ja, sie liefern auch. Aber es ist wirklich ein normales Restaurant. Grob geschätzt 15 Tische. Dass die Zutaten größtenteils billig sind, weiß ich. Aber selbst wenn diese bei ein oder zwei Euro liegen, sehe ich da wenig Raum für Personal etc. pp.

    @Maiha:
    Mir hat sie geschmeckt. Aber ich muss auch sagen, dass ich schon wesentlich bessere hatte. Für den Preis war sie unschlagbar, das muss man zugeben. Besser als TK-Ware für zu Hause.

    @Wahlberliner:
    0.0
    OK, das ist noch extremer.

    @hartmut:
    Eben, eben …

    @ednong:
    Schön, dass mich wenigstens einer versteht. 🙂

  10. Ben

    Was hat das mit Kapitalismus zu tun?

  11. @Ben:
    Die Frage ist eher: Was nicht?
    Natürlich ist die Überschrift schwierig, weil nicht das Gruseln kapitalistisch ist, aber sonst würde ich das extreme Preisdrücken, kombiniert mit vermutlicher Unterbezahlung des Personals doch für ein Grundproblem der Wirtschaftsordnung halten.

  12. Bernd K.

    Hat’s einer gemerkt? Der Sash berlinert jetzt in seinen Texten 😉
    „..das eine Mal auswärts pro Quartal enge ich mir nicht irgendwie ein…“

  13. Das wird ja auch mal Zeit, oder? 🙂

  14. @Bernd K.:
    Und im wirklichen Leben mache ich das noch öfter! 🙂

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