Vorblick

2010 ist Vergangenheit. Geschichte, wie man so schön sagt. Und Geschichte, so habe ich insbesondere in den letzten Jahren gelernt, bleibt nicht stehen. Deswegen möchte ich mich auch dieses Jahr – so schön es bisweilen war – nicht mit einem Rückblick aufhalten, sondern einen Vorblick wagen.

Damit bin ich nicht alleine, auch Paramantus und Aro haben ähnliches gewagt.

Nun bin ich kein Hellseher, wenn ich allzu detailliert sehen könnte, was passiert, dann würde ich still und heimlich jede Woche den Lotto-Jackpot knacken und nichts darüber schreiben. Einen Anspruch auf Richtigkeit hat das Ganze natürlich nicht, die Chancen stehen aber nicht schlecht.

Die wichtigsten Geschehnisse 2011 in Stichworten:

Arbeitslose
Ein unbedeutender saisonal bedingter Anstieg der Arbeitslosenzahlen um etwa 0,87% bereitet den Boden für eine umfassende Hartz4-Reform, die unter anderem beinhaltet, dass künftig jeder Arbeitslose ab 5 Uhr morgens von einem Arbeitgeber angerufen werden kann, wenn in deren Belegschaft jemand krankheitsbedingt ausfällt. Der finanzielle Ausgleich für diese Bereitschaftszeit, die Voraussetzung zum Leistungsbezug ist, beträgt 0,97 € pro Tag, was gleichfalls der von den Gewerkschaften lang ersehnte und stolz bejubelte flächendeckende Mindestlohn ist.
Nach Abzug der Hartz4-Kürzung, die als jährlich vorzunehmen im Grundgesetz verankert wird, beträgt der Netto-Erlös dieser Maßnahme pro Arbeitslosem etwa 3,90 €. Bundeskanzlerin Merkel weist darauf hin, dass es weniger als im Vorjahr sei und beendet mit dieser Aufklärung die sommerliche Brandanschlagserie auf ostdeutsche Plattenbausiedlungen erfolgreich.

Bahn
Die Deutsche Bahn sorgt für Übersichtlichkeit bezüglich Zugausfällen. Bahnchef Grube verkündet, dass unter 5°C und über 25°C grundsätzlich nur die Hälfte aller Züge verkehrt, und zwar die zu ungeraden Zeiten. Ausgenommen sind Metropolen über 250.000 Einwohner und Sprockhövel. Die Zahl der Wagons wird ganzjährlich um 15% reduziert, außer überregionale Messen befinden sich in 185 km Umkreis. Bei drittgradiger Anbindung an Flughäfen falle nur jeder dritte Zug bei Extremtemperaturen aus, bei Strecken über 325 km ist dann jedoch ein einstündiger Aufenthalt an einem Bahnhof mindestens der Kategorie 2 zum Zugwechsel nötig. Ausgenommen von diesen Regelungen sind die Weihnachtsfeiertage, Silvester, Aschermittwoch, sowie je der dritte Dienstag und der erste Freitag jedes Monats – außer im September und im Oktober. Für diese Tage gilt ggf. weiterhin ein Notfahrplan.

Berlin
In Berlin finden die Wahlen zum Abgeordnetenhaus statt, was eine heute noch unvorstellbar knappe Entscheidung wird. Renate Künast gewinnt die Wahl zur Oberbürgermeisterin der Hauptstadt zwar knapp, wobei sich später herausstellt, dass dies nur der Fall war, weil Wowereit seinen Untergebenen als letzte Amtshandlung freigestellt hat, was sie wählen, da er sich keinerlei Chancen ausgerechnet hat. Die Affaire um die Rathausbediensteten, die ihre Stimmen als Hommage an die amerikanische Botschaft der FDP gaben, sorgt aber nicht nur für die Abwahl Wowereits, sondern legt auch den Grundstein für seine Entscheidung, zusammen mit Guido Westerwelle eine neue Spaßpartei zu gründen. Das Programm der gelb-roten Partei mit dem wenig überraschenden Namen LUPUS (liberal und proletarisch und sexy) ist erst im Folgejahr auszuarbeiten, ersten Gerüchten nach ist das Kernthema die Einführung von Steuern auf HartzIV, damit man diese später senken kann. Als Ziel für die nächste Bundestagswahl werden 81% angepeilt, was ein sichtlich stolzer Wowereit Herrn Westerwelle zuschreibt, der nun „alles genau andersrum als bei der FDP“ machen will.
Nachdem Renate Künast die Stadtführung übernommen hat, wird Prenzlauer Berg ausgemeindet und die sichtlich befreit wirkenden Bürger dieser neuen Baden-Württembergischen Exklave planen umgehend den Bau eines neuen Hauptbahnhofes unter der Schönhauser Allee. Beim auflodernden Konflikt zwischen Rest-Berlin und Brennslberg sorgen nicht zuletzt die Stimmen der (zahlenmäßig stark zurückgegangenen) Linken für den Beschluss zum Bau eines Zaunes zur Befriedung der Stadt. (Der neue Minister für Medienschutz, Lutz Heilmann zum Thema: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen.“)

Bildung
Die weltweite Bildung steigt kurz vor dem Jahreswechsel sprunghaft an, als sich aus Furcht vor dem Weltuntergang 2012 von New York bis Sprockhövel Abermillionen Dummbeutel selbst umbringen.

Bremen
In Bremen wird Mitte August ein LKW-Reifen am Straßenrand gefunden.

Chemie
Die überraschende Entdeckung, dass Baden in Erdöl einen Großteil der bekannten Genitalfurunkel heilen kann, bewahrt BP vor der Pleite und katapultiert den Aktienkurs in ungeahnte Höhen. Nicht nur, dass der Konzern Schadensersatzforderungen vom Deepwater-Horizon-Debakel im letzten Jahr abschmettern kann: Die Hausjuristen des Konzerns deklarieren BP zum gemeinnützigen Verein und erstreiten vor Gericht Eintrittsgelder für die amerikanischen Badestrände am Golf von Mexiko, was dem Konzern Nachzahlungen in Milliardenhöhe sichert. Erstmals wird in Amerika nicht nur offen diskutiert, ob die Politik seitens der Ölindustrie käuflich ist, bis Jahresende einigt man sich sogar über den Preis.

Chile
Nach dem Überraschungserfolg im letzten Jahr beschließt die chilenische Regierung, abermals ein paar Bergleute zu vergraben, um sie medienwirksam wieder freizubaggern. Dieses Mal wollen sie jedoch für eine Internetleitung direkt ins Loch Sorge tragen, um das Event noch besser vermarkten zu können.

FDP
2011 wird ungeahnt zu einem Schicksalsjahr der FDP. Die Umfragewerte der Partei stürzen bis zum Herbst derart ins Bodenlose, dass klar wird, dass nicht einmal mehr die verbliebenen 508 Restmitglieder ausnahmslos für ihre Partei stimmen werden, sollte jemand auf die Idee kommen, bei einer Wahl zu kandidieren.
Erst der Weggang Westerwelles zu LUPUS sorgen für die Trendwende. Die von Experten als „schon ein bisschen unrealistisch“ eingestufte Forderung nach „Steuerfreiheit für alle Jahreseinkommen über 24.000 €“ wird dank medialer Hofierung seitens Bild-Zeitung und RTL2 zum Erfolg. Insbesondere die 80% der Arbeitslosen, denen laut neusten Bildungsumfragen die Rechnung zu kompliziert ist, stehen felsenfest hinter der neuen Volkspartei, die zum Jahresende hin nahezu 29 Millionen Mitglieder hat.

Google
Firmengründer Page erwägt, Deutschland künftig auch bei den Diensten „maps“, sowie „earth“ zu verpixeln. Bundeskanzlerin Angela Merkel begrüßt den Schritt in ihrem Podcast, zeigt sich zugleich aber sehr besorgt, dass dabei die Bildqualität leiden könnte und fordert Nachbesserungen.

Horst Köhler
Köhler spricht in einem Interview mit der Bild-Zeitung davon, dass er als Rentner vermisse, dass ihm Respekt gezollt werde, und dass er deswegen nicht mehr Rentner sein wolle. Die Frage, ob dies ein angekündigter Suizid oder ein angekündigter Wiedereintritt in die Politik ist, begleitet die Nation bis ins Jahr 2012.

Island
Das Parlament spricht sich einstimmig dafür aus, Vulkane künftig so zu benennen, dass auch ausländische Journalisten sie aussprechen können. Eine Petition der Bild-Zeitung, sie nur zu nummerieren, interessiert im hohen Norden natürlich niemanden, 3,5 Millionen Befürworter in Deutschland drohen Island mit Krieg.

Kirche
Nach abermaligen Mißbrauchsskandalen erklärt Papst Bendikt „die Knabenliebe zur Tugend“ und löst damit weltweit Tumulte aus. Der erwartete Prestigegewinn stellt sich erst mit der Seligsprechung Michael Jacksons an dessen Todestag ein.

RTL
Der Unterschichtsender macht von sich Reden, als er Jörg Kachelmann eine eigene Gerichtssendung anvertraut. Die ersten 4 bereits im Mai abgedrehten Staffeln behandeln allesamt Streitigkeiten unter Kachelmanns Ex-Geliebten.

Schmalkalden
Die kleine thüringische Stadt erfreut sich großer Beliebtheit bei Kommunalpolitikern, die auf von Steuergeldern bezahlten Bildungsreisen einmal hautnah miterleben dürfen, wie man Löcher wieder schließt.

Stuttgart 21
In Stuttgart lässt das Wahlergebnis nur eine schwarz-grüne Koalition zu, sodass der Streit um das Prestigeprojekt zur sicheren Endlagerung von Steuergeldern auf eine neue Ebene gehoben wird. Es wird ein abermaliger Schlichtungsprozess anberaumt, diesmal unter der Führung von Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl. Während die S21-Befürworter auf Kohls Parteizugehörigkeit setzen, hat er sich unter den Gegnern vor allem dadurch beliebt gemacht, dass er so niedlich aussieht und nicht gerne mit der Bahn fährt. Die abermalige Offenlegung aller Fakten scheitert daran, dass Kohl sie nicht herausgeben will, weil er Mappus sein Ehrenwort gegeben hat.

Thilo Sarrazin
Der streitbare Ex-Senator veröffentlicht ein neues Buch mit dem Titel „Etwas schafft sich ab“. Der hochintelligente Autor schafft es, seine Thesen über Dummheit und Vererbung abermals zu verallgemeinern und zu abstrahieren, sodass die Quintessenz des Werkes, „Irgendwas ist dumm und irgendwer muss dagegen sein“, bei der Wahl zum Wort des Jahres nur knapp dem Outing von Renate Künast unterliegt. Eine Sommerloch-Debatte entspinnt sich um eine Spiegel-Online-Umfrage zum Buch, bei dem 63% der Leser für „ich bin dumm“ statt für „ich bin dagegen“ gestimmt haben.

Twitter
Der Kurznachrichtendienst bricht Mitte August zusammen, als am Jahrestag des Blumenkübel-Mems in Bremen ein LKW-Reifen am Straßenrand gefunden wird und der unlustigste Mem des ganzen Internets für unzählige Tweets sorgt.

Wikileaks
Wikileaks erntet erstmals hundertprozentigen Zuspruch der Bevölkerung Europas, als die Plattform die Einkaufslisten zahlreicher Landespolitiker veröffentlicht. Während Guido Westerwelle seine Quietscheentchen-Sammlung noch in den Wahlkampf für seine neue Partei LUPUS integrieren kann (als Kandidaten fürs Justizministerium beispielsweise), beendet die Dummerchen-Affäre die politische Karriere Horst Seehofers, weil er auch nach wochenlangem Schweigen keine vernünftige Ausrede dafür finden kann, warum er das Buch „Deutschland für Dummies“ auf seiner Besorgungsliste kurz vor einem Kanzlerinnenbesuch mit dem Vermerk „dringend“ versehen hat.

Winter
Bereits kurz nach Weihnachten schneit es in ganz Deutschland. Durchschnittlich 2,8 cm Neuschnee in einer einzigen Nacht bringen die im Januar vorsorglich gegründete Behörde „Amt für wetterbedingte Ausfallerscheinungen, kristalline Niederschläge und Krisenmanagement im Streusalzgewerbe“ in Bedrängnis. Die 2.200 Mann starke Taskforce Neuschnee zeigt sich am 28. Dezember schockiert über den frühen Wintereinbruch und sperrt vorsorglich sämtliche Autobahnen für Gigaliner und Fahrräder. Interrims-Behördensprecher zu Guttenberg verweist auf die Möglichkeit, auf Flugzeuge auszuweichen.

Wort des Jahres
„Jetzt tut nicht so, als ob ihr das nicht hättet kommen sehen, Freunde!“ (Renate Künast)

21 Comments

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21 Responses to Vorblick

  1. Hey, hier in Bremen habe ich alleine 2010 schon mindestens 2 LKW-Reifen gesehen 🙁
    Gute Nacht! 🙂

  2. Aro

    „Oberbürgermeisterin“? Oh, oh, Sash, das hätte dir nicht passieren dürfen…

    Erschreckend finde ich vor allem die Bremer Reifen-Meldung. Kaum anzunehmen, dass wir das Jahr 2012 dann überhaupt noch erreichen werden.

  3. Karin

    Hallo zusammen.

    Euch allen natürlich erstmal ein frohes neues Jahr!

    So wie ich das sehe wird das Jahr nicht mehr all zu interessant, nachdem die größten Geheimnisse hier schon gelüftet wurden.
    Trotzdem darf man gespannt sein auf die Auswirkungen des LKW-Reifens und LUPUS 😉

    Freu mich schon auf viele neue Blogeinträge =)

  4. Hehe, Horst Köhler tritt dann einfach von seinem Rentnerdasein zurück 😉

    Und um Dr. House zu zitieren: „It’s never Lupus!“ 😛

  5. @Ingmar:
    Es muss die richtige Zeit sein, damit sie groß rauskommen 🙂

    @Aro:
    Ach, wat passiert mir nicht so alles nebenher 😉
    Ob sich das alles bewahrheitet, werden wir ja sehen.

    @Karin:
    Spannung ist nicht das einzige im Leben 🙂
    Und den Wunsch mit dem neuen Jahr gibt es natürlich zurück!

    @Paramantus:
    Den Rücktritt finde ich persönlich auch schade… aber was will man machen? 😉
    Und an House hab ich bei der Namensfindung durchaus gedacht…

  6. Kommentator

    Dass Twitter wegen unzähliger Tweets zu albernen Themen zusammenbricht, ist kein Vorblick, sondern quasi ständiger status quo 🙂

  7. @Kommentator:
    Ich weiss, das macht den Vorblick ja so realistisch 🙂

  8. Anonymous

    Der Teil über die Bahn gefällt mir am besten. 😀

  9. @Anonymous:
    Die Vorhersage darüber fiel mir auch extrem leicht 😀

  10. der Schwob

    Ach, dafür liebe ich Jahreswechsel….glorreicher Text, wobei ich es erschreckend finden würde, wenn Kohl hier her zur Schlichtung reisen würde.
    Das die FDP ins Bodenlose stürzt, denke ich ist jedem klar, denn das tzut sie ja schon seit gut 5 Monaten.
    und zur Bahn…da fällt mir einfach nix mehr ein!

  11. idriel

    *lol*

    (Ein Gesundes Jahr 2011 für Euch alle!)

  12. @Der Schwob:
    Danke!
    Ich bin gespannt, wie hoch die Trefferquote am Jahresende sein wird 😉
    Und was die Bahn angeht: Seit gestern haben wir in Berlin bei der S-Bahn einen neuen Notfahrplan, der den alten Notfahrplan noch ein wenig einschränkt. Bald fährt die Stuttgarter S-Bahn häufiger als die hier oben…

    @idriel:
    Gleichfalls! Also das gesunde Jahr. lol ist aber auch ok 😉

  13. der Schwob

    ach die Stuttgarter S-Bahn. Mal sehen wie lange die überhaupt noch fährt. Aber man kann beim Bau von S21 ja auch echt mal vergessen die Weichen wieder einzubauen oder?

  14. @der Schwob:
    Oha! Ich sehe, ihr habt ganz eigene Probleme…

  15. woodstock

    Lieber Sash,

    Kleinstädte haben „Oberbürgermeister“. Berlin allerdings hat einen „Regierenden Bürgermeister“. Man sollte nicht über Politik schreiben, wenn man die einfachsten Begriffe nicht richtig benennen kann.

    Oder würdest du mit einem über Politik diskutieren wollen, der ständig FTP und FDP verwechselt?

  16. Aro

    @woodstock
    Heißt das nicht FDJ?

  17. @woodstock:
    Ja, dass Berlin an dieser Stelle eine Ausnahme macht, hab ich – trotz häufigen Hörens – noch nicht endgültig abgespeichert gehabt.
    Über begriffliche Kleinigkeiten diskutieren zu müssen, macht indes selbstverständlich keinen Spaß. Siehe die Definition von Kleinstadt bezüglich Oberbürgermeistern 😉

  18. Aro

    Der Begriff „Regierender Bürgermeister“ hat natürlich mit der Teilung zu tun, weil West-Berlin nur begrenzt Teil der Bundesrepublik war. So hatte der Bürgermeister hier eine höhere Funktion als andere Ministerpräsidenten (was er ja bis heute auch noch ist).

  19. @Aro:
    Das ist einfach so ein Fall, wo man merkt, wie sehr man sich doch an Dinge gewöhnt. Natürlich ist mir bekannt, dass es „regierender Bürgermeister“ heisst. Hätte ich in jedem Quiz so beantwortet. Beim unüberlegten Niederschreiben (noch dazu ohne den Namen Wowereit, den ich ja bisher als einzigen mit dem Amt verbinde) ist da halt schnell ein OB draus geworden, wie ich es halt kenne.
    Spricht nicht unbedingt für mein Schreiben, aber was will man machen? Fehler passieren.

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