Ideale

„Ihr könnt mich biegen, Ihr könnt versuchen mich zu brechen. Ihr könnt mir alles nehmen, doch eines kann ich Euch versprechen: Niemals, niemals, passe ich in Eure Form, Eure Norm, und bleibe der Dorn in Eurem Auge!“

– Such a Surge, Ideale (Agoraphobic Notes, 1996)

Was die von mir geschätzte Band Such a Surge in obigem Zitat kämpferisch als Beispiel für Widerstand besingt, ist eigentlich eine ganz alltägliche Selbstverständlichkeit. Idealen zu entsprechen, kann nicht funktionieren. Verweigern lässt sich allenfalls der Versuch, es zu tun. Ideale sind eben, nun ja, Ideale eben, unerreichbare Ziele.

Ich hatte in letzter Zeit wieder mal vermehrt Besuch. Nicht nur den derletzt angekündigten, ausnahmsweise war mein Social-Life-Level mal wieder weitgehend voll. Und dank einmal mehr unterschiedlichster Leute in meiner Bude oder meiner Gesellschaft habe ich mich mal wieder mit den Anforderungen des modernen Lebens beschäftigt. Und – ich mag da eine eingeschränkte Sichtweise haben, ich trage vergessenes gerne nach – es scheint so zu sein, dass sich unsere hierzulande geäußerten Ansprüche (natürlich ungeachtet einiger Ausnahmen) ans eigene Leben auf ein paar grundlegende Punkte verkürzen lassen:

  • Beruflicher Erfolg
    Wir wollen Arbeit. Und zwar nicht nur irgendeine, sondern eine, die uns Spaß macht und viel Geld bringt.
  • Eine Beziehung
    Wir wollen (mindestens) einen Partner, mit dem wir seelisch und sexuell auf einer Ebene sind und zufrieden unseren Alltag bestreiten können.
  • Ein funktionierendes Sozialleben
    Wir wollen viele und dennoch möglichst gute und aufrichtige Freunde, mit denen wir regelmäßig etwas unternehmen und die allerorten für quasi jeden Spaß zu haben sind. Dasselbe gilt natürlich für die Familie.
  • Freiheit
    Wir wollen im Grunde tun können, was wir wollen – und das möglichst oft.

Das ist natürlich nicht alles. Aber wir leben nun mal in einer Gesellschaft, in der zumindest weitgehend dafür gesorgt ist, dass wir nicht Hunger leiden müssen oder ärztliche Versorgung versagt bekommen. Weitgehend stehen uns zumindest irgendeine Behausung und fließend Wasser zur Verfügung. Wie gesagt: Ich weiß, dass es bei alldem auch Ausnahmen gibt, aber in großer Mehrheit sind die Wünsche jene, die oben aufgezählt werden.

Und ich würde sagen: das ist unrealistisch und wir sollten uns damit abfinden!

Ideale sind nicht unnütz, sie beflügeln die Menschheit seit jeher – in mal mehr, mal weniger schöner Ausprägung – Dinge zu erreichen, die zuvor unmöglich erschienen. Dennoch sind wohl schon die oben genannten Punkte für die meisten Menschen nicht erreichbar. Also nicht in Kombination. Ich hoffe wie viele andere darauf, dass das irgendwann mal klappt – aber ich rate davon ab, sich in diesen Wunschtraum reinzusteigern.

Einen guten Beruf nach oben genannter Definition zu ergattern ist sicher für viele möglich. Nebenbei eine Beziehung … naja, immerhin für die meisten der vielen vielleicht. Zusätzlich zum guten Job und einer funktionierenden Beziehung ein aktives Sozialleben zu betreiben, wird für die meisten schon schwierig, ohne nicht wenigstens bei einem der beiden anderen Punkte ein paar Abstriche machen zu müssen. Dann aber noch die Freiheit zu haben, zu tun was man will … mal ganz ehrlich: kann mir irgendwer auch nur einen Menschen nennen, auf den das zutrifft?

Ist es wirklich Zufall, dass die nach eigenen Aussagen glücklichen Künstler alle kein Geld haben, und Hollywoodstars auf der anderen Seite schneller geschieden werden als besagte Künstler ihre Klamotten wechseln?

Ich vermute: nein.

Ideale sind Ideale, weil sie unerreichbar sind. Um die oben genannten Punkte halbwegs miteinander in Einklang zu bringen, bräuchte man einen zeitunabhängigen Job mit weniger als z.B. drei Arbeitsstunden (wochen-)täglich, der 100 € pro Stunde bringt. Darüber hinaus tolerante Partner und einen Freundeskreis, bei dem einen nicht ein einziger neidet, dass man so viel verdient. Und verprellen können müsste man sowohl den Chef, als auch Partner und Freunde – um wenigstens halbwegs frei zu sein. Dafür müsste Kollege Zufall schon einen ganzen Kübel Glück über einem ausschütten. Und zwar dauerhaft und auf Kosten anderer.

Sich auf dem ein oder anderen Gebiet mal freizuschaufeln ist gut. Tut gut. Stärkt das Selbstbewusstsein und gibt neue Kraft. Aber die oben genannten Ziele sollten nicht verwechselt werden mit dem, was jeder braucht, um glücklich oder zumindest zufrieden zu sein. Diese Ansprüche sollte man getrost ignorieren.

Und da ich ja immer schreibe, wie absolut gut es mir geht, will ich hier auch den Anfang machen:

  • Beruflicher Erfolg
    Ja, ich bin Taxifahrer und inzwischen Autor. Das ist volle Kanne geil und macht beides einen Höllenspaß! Aber mein Arbeitsaufwand steht in keinem Verhältnis zum Verdienst. Den ein oder anderen Luxus habe ich, sicher, aber wenn ich beide Jobs zusammenrechne, dann würde ich mich wundern, wenn ich auf über 3 € Verdienst pro Stunde komme.
  • Beziehung
    Da liegt zweifelsohne mein Glück. Ich fürchte zwar immer, dass ich mich mehr darauf konzentrieren müsste, aber ich würde meiner Beziehung 10 Punkte von 10 erreichbaren geben. Und wenn Ozie nur 8 von 10 geben sollte, lägen wir vermutlich immer noch weit über dem Durchschnitt.
  • Sozialleben
    Meine Schwäche. Ich komme nicht dazu, mich bei Freunden zu melden und hab viel zu selten Besuch. Obwohl ich ein geselliger Mensch bin. Mal kommt mir die Arbeit  – und damit das Geld – in die Quere, mal verpeile ich es einfach. Ich hab einige gute Freunde, aber die haben es entsprechend nicht leicht mit mir.
  • Freiheit
    Mit der sieht es ganz gut aus, ich hab da mehr Möglichkeiten als der Durchschnitt. Trotzdem muss ich viele Einladungen absagen, weil das Geld nie reichen würde oder eben mal abwinken, weil mir meine Beziehung wichtiger ist.

Und ich hab’s dabei echt noch leicht. Würde meine Arbeit plötzlich doppelt oder dreifach so viel Geld abwerfen wie bisher, dann könnte ich das alles unter einen Hut bringen, nahe den oben genannten Idealen leben. Aber mal ehrlich: „nur“ das Gehalt verdreifachen … arg viel besser kann man als halbwegs bodenständiger Mensch doch nicht mehr definieren, was Utopie ist.

Und das ist auch der – mit diesem Eintrag wohl sachlich erklärte – Grund, weswegen ich kaum Neid verspüre, wenn ich höre, dass andere Menschen z.B. besser verdienen. Denn das alleine sagt gar nichts aus. Die entsprechenden Leute haben spätestens beim Punkt „Freiheit“ Einschnitte hinzunehmen, die ich nicht akzeptieren könnte.

Unzufrieden sind wir alle, zumindest irgendwie ein bisschen. Ob wir zu wenig Geld haben oder unsere Freunde nur unser Geld wollen. Ob wir Single sind oder dank unseres Partners eingeschränkt werden, unsere Freiheit auszuleben. Ob wir dank Arbeitslosigkeit viele Leute treffen können oder die Leute nicht mehr zu uns kommen, weil wir wegen der Arbeit keine Zeit mehr haben … irgendwas ist immer.

Ich will mit diesem Eintrag gewiss nicht zur Lethargie aufrufen. Die meisten Verbesserungen müssen nach wie vor erkämpft werden. Aber ich rate dazu, gelassen zu bleiben, wenn wir mal wieder nur unseren eigenen (meist: den kapitalistisch vordefinierten) Ansprüchen nicht genügen. Dieses „irgendwas“, das immer ist, sind nämlich eigentlich wir selbst. Wir als Menschen und die Menschen um uns herum. Und wir sollten uns davor hüten, uns selbst als Fehler in einer sonst theoretisch perfekten Welt zu sehen.

2 Comments

Filed under Haushalt, Vermischtes

2 Responses to Ideale

  1. Wahlberliner

    Sehr schöne Zusammenfassung. Leider ist er von Youtube verschwunden, sonst hätte ich hier jetzt noch den Film „Frohes Schaffen – ein Film zur Senkung der Arbeitsmoral“ verlinkt, aus der Reihe „Kleines Fernsehspiel“ beim ZDF. Naja, vielleicht gibts den ja noch irgendwo anders im Internet…

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert